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Verfassungsreform in Italien: der entscheidende Schritt
(veröffentlicht am 13. Oktober 2015 auf http://www.verfassungsblog.de/verfassungsreform-in-italien-der-entscheidende-schritt/#.Vh4D1uztlBd)
Der Reformwind weht durch die Gemäuer des italienischen Senats. Das ansonsten eher lethargiegeplagte Land erlebt gerade den umfangreichsten und ambitioniertesten Prozess zur Reform seiner Verfassung seit Beginn der Republik. Bei keiner anderen genehmigten Verfassungsänderung wurde nämlich eine so große Anzahl an Aspekten und Artikeln revidiert. Ein vergleichbares Ausmaß hatte lediglich jene, die 2005 von beiden Kammern genehmigt, schließlich jedoch beim Verfassungsreferendum am 25. und 26. Juni 2006 abgelehnt wurde. Und kein verfassungsändernder Gesetzentwurf hat die Regierungsform so grundliegend verändert, wie es der derzeitig behandelte machen würde, der am 13. Oktober in dritter Lesung im Senat genehmigt wurde und in den kommenden Wochen in vierter Lesung in der Abgeordnetenkammer diskutiert werden wird. Wird der Gesetzentwurf nicht von zwei Dritteln des Parlaments genehmigt, kann er einem bestätigendem Referendum unterzogen werden. Dieses Referendum wird voraussichtlich im Herbst 2016 stattfinden, da es nicht nur von der Opposition, sondern auch von der Mehrheit als Legitimationsinstrument verlangt wird.
Kernpunkt der Verfassungsänderung ist der Senat, der zu einer kompetenzarmen Zweitkammer werden soll. Italien, dessen perfektes Zweikammersystem ein nicht mehr zeitgemäßes Unikum ist, folgt somit der Tendenz der schwachen Zweitkammer. Bisher unterschieden sich die beiden Kammern des italienischen Parlaments kaum. Die Vertreter beider Kammern wurden zum selben Zeitpunkt direkt gewählt, mit einem mittlerweile als verfassungswidrig erklärtem Wahlrecht (das neue Wahlgesetz wurde im Mai 2015 verabschiedet, Nr. 52/2015). Außerdem verfügt der Senat in seiner derzeitig noch aktuellen Form über nahezu identische Kompetenzen wie die Abgeordnetenkammer und verzögert durch dieses Doppeldasein die Gesetzgebung ungemein.
Dass die Sehnsucht nach einer Senatsreform in Italien seit Jahren ein Dauerbrenner ist, erscheint daher mehr als nachvollziehbar. Das Entscheidungssystem, das sich in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat, ist schwerfällig, träge und ineffizient. Entscheidungen werden meist auf die lange Bank geschoben, und nichts erscheint einfacher als sich in wenig konstruktiver Obstruktion zu üben. Auch in der gerade abgeschlossenen dritten Lesung im Senat haben die Oppositionspolitiker den Kampf gegen die Mühlen des Reformwindes aufgenommen und versucht, mit einer Flut von Abänderungsanträgen die Böen zu bremsen. Vor allem Senator Roberto Calderoli, der mit 82 Millionen (!) Abänderungsanträgen einen Weltrekord für sich verzeichnen konnte, hat den Senat auf die Grenzen seiner Existenz hingewiesen.
Obwohl es die Arbeit im Plenum erschwert, ist die Obstruktion für die Oppositionen die einzige, wenngleich harmlose Waffe, die die Mehrheit und die Regierung zum Dialog zwingt. Von dieser Umstruktierung des Senats und der Überwindung des perfekten Zweikammersystems verspricht sich die Regierung in erster Linie eine Vereinfachung dieses schwerfälligen Entscheidungsprozesses. Dass ausgerechnet bei dieser Verfassungsänderung, die sich an die Richtschnur der Vereinfachung hält, ein Text zustandekommt, der eine Unmenge an Querverweisen enthält und verschachtelter und komplexer nicht sein könnte, ist wohl Ironie des Schicksals. Als Beispiel sei allein Art. 70 der Verfassung zum Gesetzgebungsverfahren erwähnt: in der derzeitigen Verfassung besteht er aus neun Wörtern und wird in Zukunft fast 400 umfassen.
Hinter den Worthülsen der dringenden Notwendigkeit von Vereinfachung, effizienten Entscheidungen und finanziellen Entlastungen des Parlaments verbergen sich aber auch Abstriche. Statt die Regionen und die lokalen Körperschaften als politisch relevantes Gegengewicht zu betrachten, wird im Sinne der Vereinfachung eine stärkere Konzentration der endgültigen Entscheidungsmacht für die Regierung und die Abgeordnetenkammer angestrebt. Die Zweifel an der Vorstellung, dass ein derartig komplexer und inhomogener Staat wie Italien von Rom aus bis in die entlegenste Insel und das hinterste Tal zentralistisch regiert werden soll, sind durchaus plausibel.
Was bringt der parlamentarische Herbst? Francesco Palermo antwortet.
Überzeugen statt drohen. Francesco Palermo antwortet.
Der Neuanfang des italienischen Föderalismus
Regionenminister Delrio hat gestern im Ausschuss für Verfassungsfragen des Senats gesprochen und die programmatische Linie vorgestellt, welche die Regierung in den Fragen der Beziehungen zu den Regionen und örtlichen Körperschaften einzunehmen gedenkt.
Mehr als nur Kompetenz und Interesse für die Thematik beweisend, – was alles andere als selbstverständlich ist, insbesondere eingedenk dessen, was viele seiner Vorgänger gemacht haben -, hat der Minister auch einen neuen Weg aufgezeigt, um die Beziehungen zwischen den verschiedenen Regierungsebenen in Italien erneut in Gang zu bringen. Der zentrale und innovative Punkt betrifft hauptsächlich die Methodik, die die Absicht belegt, den Staat eher zu einem Moderator anstatt Entscheidungsträger zur machen, und so die Rolle der Autonomien aufzuwerten und ihr Potential frei entfalten zu lassen. Man dürfte also nicht mehr einseitigen Entscheidungen beiwohnen müssen, die von oben herab vorgegeben werden, sondern einen Prozess der Zusammenarbeit, der alle Regierungsebenen in die strategischen Entscheidungen mit einbezieht, auch mit dem Ziel, die Zahl der Verfassungsklagen zu reduzieren.
Begrüßenswert erscheint auch die Absicht, die Umsetzung des sogenannten “Steuerföderalismus” zu Ende zu bringen, die Verantwortlichkeiten der Gebietskörperschaften erhöhend, und dabei “Überrümpelungsreformen” und asystematische Reformen zu vermeiden, wie man sie in Vergangenheit gemacht hat. Deshalb muss der Einsatz zur Aufwertung der Gebietskörperschaften mit einer umfassenden Verfassungsreform einhergehen, die endlich die Rolle der Regionen und der Gemeinden in der italienischen Verfassungsarchitektur klärt.
In dieser Hinsicht erscheint es jedenfalls notwendig zu sein, eine weitere Vertiefung in Angriff zu nehmen. Es scheint noch an einem umfassenden Bild des Systems der Territorien zu mangeln: wofür braucht es die Regionen und örtlichen Körperschaften? Wer muss was tun? Gibt es die Überzeugung, dass die Regionen in struktureller Hinsicht etwas anderes sind als die Gemeinden, oder macht man damit weiter, sie alle in den selben Topf zu werfen, dabei die Regionen zu bloßen Verwaltungseinheiten degradierend und den Gemeinden Verantwortungsbereiche übertragend, die sie nicht übernehmen können? Wie verbindet man die Aufwertung der Autonomien mit der territorialen Vertretung im Zentrum des Staates, also mit den verschiedenen (und manchmal bizarren) Vorschlägen, aus dem Senat eine “Kammer der Regionen” zu machen (eine überaus schlechte Bezeichnung, die eine nicht eindeutige Position zur territorialen Vertretung beinhaltet)? Inwiefern anerkennt man den Wert der Differenzierung, nicht nur zwischen Regionen mit Normalstatut und Sonderstatut, aber auch innerhalb der Regionen mit Normalstatut und jener mit Sonderstatut, den großen Unterschieden Rechnung tragend, welche Italien kennzeichnet?
Der Dialog zwischen den Regierungsebenen erscheint also mit den besten Vorsätzen ausgestattet, und die richtige Methodik anwendend, einen Neuanfang zu erleben. Viele Fragen harren aber noch einer Antwort. Um die Antwort zu finden, wird auch der Beitrag wichtig sein, den das Parlament und vor allem auch die Regionen und Gemeinden dem Aktionsplan der Regierung beibringen können, damit auch auf politischer Ebene verstanden wird, dass mehr Autonomie die Lösung ist und nicht das Problem.