Parlament: Danke, aber ich werde nicht erneut kandidieren

Die Möglichkeit einer Wiederkandidatur im Parlament ehrt mich. Es bedeutet, dass Personen, die ich schätze, finden, dass ich meine Aufgabe in dieser Legislaturperiode gut gemeistert habe. Daher habe ich gründlich darüber nachgedacht, obwohl mir seit dem ersten Tag an klar war, dass es sich um eine einmalige Erfahrung handeln würde.

Doch es gibt zu viele persönliche, berufliche und auch politische Gründe, die mich dazu führen, mich nicht wieder der Wahl zu stellen. Auf erstere werde ich nicht eingehen, weil sie die Privatsphäre betreffen. Aus beruflicher Sicht ist es eine große Ehre, die MitbürgerInnen zu vertreten, und ich bin froh über diese Erfahrung. Es war eine außerordentliche Chance, um die Personen, die Gesellschaft und die Institutionen besser kennenzulernen. Es ist nicht nur eine Vervollständigung für einen Verfassungsrechtler, sondern auch eine Lektion fürs Leben. Dabei lernt man aber auch, wie oberflächlich die politischen Entscheidungen häufig beurteilt werden, und wie schwierig es einem diese Umstände machen, die nötige Motivation für einen so heiklen Auftrag zu finden, der meistens mit einer Art, einer Sprache und mit Ritualen ausgeführt wird, die nicht die meinen sind.

Aus politischer Sicht bezahlt man für die Entscheidung, unabhängig zu bleiben, einen Preis. Es ist sehr mühsam, wenn einem in einem von Konsens geprägten Umfeld nur Beispiele und Argumentation als Instrumente zur Verfügung stehen. Es war eine Legislaturperiode, in der in den Bereichen, die ich am meisten verfolgt habe – Autonomie und Grundrechte –, große Errungenschaften erzielt werden konnten, auch dank der günstigen Rahmenbedingungen. Ich habe mit bestem Wissen und Gewissen meinen Beitrag geleistet. Oft habe ich mit mir gehadert, weil ich mich mit Lösungen zufriedengeben musste, die nicht gänzlich (manchmal fast gar nicht) mit meinen Ideen übereinstimmten, aber die Gründe der anderen und die Kompromisse mit diesen nicht zu akzeptieren ist eine bequeme Form der Arroganz. Ohne Mediation gibt es keine Politik, aber die Mediation entmutigt, wenn sie nicht auf der Abwägung von Argumenten fußt, sondern auf Machtverhältnissen.

Was die politische und gesellschaftliche Botschaft meines Mandats anbelangt war es im Grunde ausreichend, dass ein parteiloser, italienischsprachiger Kandidat mit Unterstützung von deutschsprachigen MitbürgerInnen in einem gemischten Wahlkreis mit mehr Stimmen als all jene der anderen zehn Kandidaten zusammen gewählt wurde, um zu zeigen, dass dieses komplexe und wunderschöne Fleckchen Erde das Potential hat, wirklich eine Brücke zwischen Kulturen zu sein. In diesen Jahren wurden viele (Durchführungs-)Bestimmungen genehmigt, die die Spannungen zwischen den Sprachgruppen gemildert haben, die Autonomie wurde durch das Erlangen neuer und die Wiederherstellung einiger alter, gekippter Kompetenzen gestärkt, neue Finanzbeziehungen mit dem Staat wurden hergestellt, enorme wirtschaftliche Vorteile für das Land wurden erzielt (Raiffeisen, Rai, Brennerautobahn, Energie…) und die Beziehungen zu Trient und Rom konnten verstärkt werden. Andere Sachen wurden in die Wege geleitet, konnten aber (noch) keinen positiven Abschluss finden, etwa die Verfassungsreform und die Abänderung des Autonomiestatuts, die – unabhängig davon, was man von ihren Inhalten hält – unabdingbare Schritte sind. Auch die Wirtschaftslage hat sich im Vergleich zu vor fünf Jahren verbessert. In anderen Punkten hat man hingegen Schritte nach hinten gemacht. Die Welt ist düsterer als damals: das neue Klima der nationalistischen, gar rassistischen Intoleranz, das in weiten Teilen Europas und der Welt wahrnehmbar ist, findet in einem Kontext mit empfindlichen Gleichgewichten wie Südtirol großen, zu großen Zuspruch. Ich habe versucht, auf einige qualifizierende Knöpfe in Sachen Zusammenleben zu drücken, von der Schule bis hin zur Toponomastik, und vor allem habe ich versucht, stets einen offenen Dialog mit partizipativen Methoden zu pflegen, obwohl der Wind in eine andere Richtung weht.

Ich kehre in Vollzeit zur Wissenschaft, den internationalen Verpflichtungen, den intellektuellen Herausforderungen und dem Luxus zurück, sich mit strukturellen statt mit konjunkturellen Fragen auseinandersetzen zu dürfen. Obwohl die akademische Welt nicht heiler ist als die politische (im Gegenteil…), ist es jene, die ich für mich ausgewählt habe. Ich verschwinde nicht von der Bildfläche und wenn jemand nach meiner Einschätzung fragt, werde ich mich nicht entziehen. Politik kann auf drei Weisen gemacht werden, die alle achtenswert sind: als Beruf, als Berufung und als zeitlich begrenzter Zivildienst. Da ich viel mehr ein Mechaniker als ein Pilot der Institutionen bin, gilt für mich die dritte Weise.

Eine buddhistische Weisheit besagt: „Am Ende sind es nur drei Dinge, die wirklich zählen: Wie sehr du liebtest, wie sanft du lebtest und wie würdevoll du jene Dinge gehen ließest, die nicht für dich bestimmt waren.”

Auf a Glas’l mit Francesco Palermo. Der unfreiwillige Politiker

palermo.barfuss (Interview mit Vera Mair am Tinkhof, erschienen auf http://www.barfuss.it/leute/der-unfreiwillige-politiker am 8. Februar 2016)

Francesco Palermo hat ein Amt und trotzdem eine Meinung: Der Senator über Politik, was am Autonomiestatut überarbeitet gehört und sein zwiegespaltenes Verhältnis zu Social Media.

Francesco Palermo erscheint pünktlich und gut gelaunt zum Interview in der EURAC-Bar in Bozen. Der Senator begrüßt den Kellner, bestellt einen Orangensaft und bringt sich in Position. Der anfängliche Verdacht, dass er seine letzthin eher negativen Erfahrungen mit einigenSüdtiroler Medien auch auf einen selbst projizieren könnte, lässt sich zumindest zu Beginn des Gesprächs durch seine entspannte Haltung nicht bekräftigen.

Palermo gilt als intellektuell – ein Attribut, das in der Politik nicht nur positiv behaftet, für seine anderen Tätigkeiten allerdings unabdingbar ist: Leiter des Instituts für Föderalismus- und Regionalismusforschung der EURAC, Lehrstuhl an der Universität in Verona in vergleichendem Verfassungsrecht, ehemaliger Berater für den Europarat und die OSZE. Einfache Parolen sind seine Sache deshalb nicht. Dementsprechend wählt er auch im Gespräch seine Worte mit Bedacht, holt oft lange sprachlichen und argumentativen Anlauf, bis er die Hürde der Antwort endgültig nimmt.

Herr Senator Palermo, laut Ihrem Lebenslauf sprechen Sie neben Deutsch, Italienisch und Englisch noch Spanisch, etwas Französisch und besitzen Grundkenntnisse in Serbokroatisch und Niederländisch. Sind Sprachen essentiell, um eine Kultur zu verstehen?
Sprache ist dazu sicherlich nicht das einzige Mittel, aber eine wichtige Voraussetzung. Mir hätte es auch gut gefallen, Sprachwissenschaftler zu werden. Als ich hier an der EURAC begonnen habe, habe ich auch im Bereich der Rechtsterminologie geforscht. Insgesamt interessiert mich das schon. Und gerade auch in der Rechtsvergleichung sind Sprachen besonders wichtig.

Auch in Ihrem Blog betonen Sie die Wichtigkeit von Sprache. Sie schrieben Artikel zu der von Ihnen so genannten „responsabilità delle parole“ und über das missverständliche Vokabular, das in der Politik gern verwendet wird.  
Das muss man aber differenzieren, denn dabei handelt es sich um zwei verschiedenen Ebenen: Einerseits haben wir als Politiker Verantwortung für die von uns verwendeten Worte. Diese sind oft so schlecht, weil sie Ergebnis eines Kompromisses sind. Ein interessantes Beispiel dazu wird uns nun bald mit dem Gesetz zur Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Paare begegnen. Da tauchen auch sicher wieder ein paar Begriffe auf, die der Rechtsordnung bislang total fremd sind, wie etwa „affido rafforzato“ – was soll das heißen? Das ist nicht klar. Der Grund dafür liegt im politischen Prozess, weil die Politik – und das ist auch gut so – immer den Kompromiss sucht und auch suchen soll. Das ist das eine.
Dann gibt es die zweite Ebene, und die ist noch schlimmer, glaube ich. Wenn wir über die Verantwortung für die verwendeten Worte sprechen, liegen wir im Bereich der politischen Kommunikation. Und da sind wir momentan auf einem miserablen Niveau. Denken Sie einfach mal an die Social Media: Die Sprache und Aggressivität, die da oft dahintersteckt, ist ja absolut unerträglich. Daher versuche ich in meinem öffentlichen Leben zum Beispiel nie über Personen zu reden, denn es geht nicht um eine persönliche Konfrontation, sondern um Themen. Und die Wortwahl muss dabei immer vorsichtig sein – auch wenn ich manchmal etwas aggressiver werden oder eine stärkere Wortwahl verwenden möchte, damit die Botschaft klarer wird. Aber ich bremse das immer, weil ich finde, eine gewisse Grenze der Würde darf in der Sprachwahl nicht überschritten werden.

„Damals, vor drei Jahren, ist eben ein Fenster aufgegangen. Jetzt allerdings bedauere ich das, muss ich sagen. Denn das Leben ist ja wirklich miserabel. Wenn ich zurückkönnte, drei Jahre zurück, würde ich nicht mehr kandidieren.”

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Südtirol mitdenken. Immaginare l’Alto Adige. Autonomiekonvent. Convenzione sull’Autonomia.

Es ist soweit: Der Südtirol-Konvent nimmt Fahrt auf. Jeden Samstag eine große Diskussionsveranstaltung. Sei dabei!
‪#‎suedtirolmitdenken‬ www.konvent.bz.it


Al via la partecipazione civica nella Convenzione sull’Alto Adige: da oggi in tutto l’Alto Adige. Attivati!
‪#‎immaginarelaltoadige‬ www.convenzione.bz.it

 

Verfassungsreform in Italien: der entscheidende Schritt

Senato (veröffentlicht am 13. Oktober 2015 auf http://www.verfassungsblog.de/verfassungsreform-in-italien-der-entscheidende-schritt/#.Vh4D1uztlBd)

Der Reformwind weht durch die Gemäuer des italienischen Senats. Das ansonsten eher lethargiegeplagte Land erlebt gerade den umfangreichsten und ambitioniertesten Prozess zur Reform seiner Verfassung seit Beginn der Republik. Bei keiner anderen genehmigten Verfassungsänderung wurde nämlich eine so große Anzahl an Aspekten und Artikeln revidiert. Ein vergleichbares Ausmaß hatte lediglich jene, die 2005 von beiden Kammern genehmigt, schließlich jedoch beim Verfassungsreferendum am 25. und 26. Juni 2006 abgelehnt wurde. Und kein verfassungsändernder Gesetzentwurf hat die Regierungsform so grundliegend verändert, wie es der derzeitig behandelte machen würde, der am 13. Oktober in dritter Lesung im Senat genehmigt wurde und in den kommenden Wochen in vierter Lesung in der Abgeordnetenkammer diskutiert werden wird. Wird der Gesetzentwurf nicht von zwei Dritteln des Parlaments genehmigt, kann er einem bestätigendem Referendum unterzogen werden. Dieses Referendum wird voraussichtlich im Herbst 2016 stattfinden, da es nicht nur von der Opposition, sondern auch von der Mehrheit als Legitimationsinstrument verlangt wird.

Kernpunkt der Verfassungsänderung ist der Senat, der zu einer kompetenzarmen Zweitkammer werden soll. Italien, dessen perfektes Zweikammersystem ein nicht mehr zeitgemäßes Unikum ist, folgt somit der Tendenz der schwachen Zweitkammer. Bisher unterschieden sich die beiden Kammern des italienischen Parlaments kaum. Die Vertreter beider Kammern wurden zum selben Zeitpunkt direkt gewählt, mit einem mittlerweile als verfassungswidrig erklärtem Wahlrecht (das neue Wahlgesetz wurde im Mai 2015 verabschiedet, Nr. 52/2015). Außerdem verfügt der Senat in seiner derzeitig noch aktuellen Form über nahezu identische Kompetenzen wie die Abgeordnetenkammer und verzögert durch dieses Doppeldasein die Gesetzgebung ungemein.

Dass die Sehnsucht nach einer Senatsreform in Italien seit Jahren ein Dauerbrenner ist, erscheint daher mehr als nachvollziehbar. Das Entscheidungssystem, das sich in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat, ist schwerfällig, träge und ineffizient. Entscheidungen werden meist auf die lange Bank geschoben, und nichts erscheint einfacher als sich in wenig konstruktiver Obstruktion zu üben. Auch in der gerade abgeschlossenen dritten Lesung im Senat haben die Oppositionspolitiker den Kampf gegen die Mühlen des Reformwindes aufgenommen und versucht, mit einer Flut von Abänderungsanträgen die Böen zu bremsen. Vor allem Senator Roberto Calderoli, der mit 82 Millionen (!) Abänderungsanträgen einen Weltrekord für sich verzeichnen konnte, hat den Senat auf die Grenzen seiner Existenz hingewiesen.

Obwohl es die Arbeit im Plenum erschwert, ist die Obstruktion für die Oppositionen die einzige, wenngleich harmlose Waffe, die die Mehrheit und die Regierung zum Dialog zwingt. Von dieser Umstruktierung des Senats und der Überwindung des perfekten Zweikammersystems verspricht sich die Regierung in erster Linie eine Vereinfachung dieses schwerfälligen Entscheidungsprozesses. Dass ausgerechnet bei dieser Verfassungsänderung, die sich an die Richtschnur der Vereinfachung hält, ein Text zustandekommt, der eine Unmenge an Querverweisen enthält und verschachtelter und komplexer nicht sein könnte, ist wohl Ironie des Schicksals. Als Beispiel sei allein Art. 70 der Verfassung zum Gesetzgebungsverfahren erwähnt: in der derzeitigen Verfassung besteht er aus neun Wörtern und wird in Zukunft fast 400 umfassen.

Hinter den Worthülsen der dringenden Notwendigkeit von Vereinfachung, effizienten Entscheidungen und finanziellen Entlastungen des Parlaments verbergen sich aber auch Abstriche. Statt die Regionen und die lokalen Körperschaften als politisch relevantes Gegengewicht zu betrachten, wird im Sinne der Vereinfachung eine stärkere Konzentration der endgültigen Entscheidungsmacht für die Regierung und die Abgeordnetenkammer angestrebt. Die Zweifel an der Vorstellung, dass ein derartig komplexer und inhomogener Staat wie Italien von Rom aus bis in die entlegenste Insel und das hinterste Tal zentralistisch regiert werden soll, sind durchaus plausibel.

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“Wir Syrer vom Bahnhof Bozen” Franz Magazine, 9. Oktober 2015

Bozen, Grenze Europas. Bolzano, frontiera d'Europa

Wir Syrer vom Bahnhof Bozen

Maximilian Mayr
Ein Bericht von der Veranstaltung “Bozen, Grenze Europas. Bolzano, frontiera d’Europa” am 3.10.2015 in der Bahnhofsremise in der Schlachthofstraße 24 in Bozen, anlässlich des Jahrestages des Bootsunglücks vor Lampedusa. (http://franzmagazine.com/2015/10/09/wir-syrer-vom-bahnhof-bozen/)

“Die Aufnahme anderer bringt eine Bereicherung für die eigene Kultur mit sich.” – Diese Worte aus dem Mund des prominenten Jazz-Musikers Paolo Fresu geben wohl am besten den Geist der Veranstaltung “Bolzano – frontiera d’Europa. Bozen, Grenze Europas.” wieder, welche am 3. Oktober 2015 in der Bozner Bahnhofsremise vom Ausschuss für Menschenrechte des italienischen Senats organisiert wurde. Die Kundgebung fand anlässlich des zweiten Jahrestages der Tragödie von Lampedusa statt, durch welche über 350 Flüchtlinge im Mittelmeer ertranken und traf  daher zahlreiche UnterstützerInnen aus Kunst und Kultur, die in Bozen ohne Gage auftraten.

Als einer der bekanntesten Teilnehmer rief der bereits erwähnte sardische Musiker Paolo Fresu zu mehr Offenheit gegenüber den Flüchtlingen auf: “Sardinien wurde durch seine Lage im Zentrum des Mittelmeers über Jahrhunderte von verschieden Völker und Stämmen erobert und beeinflusst und ist gerade deshalb heute sprachlich wie auch kulturell so einmalig. Der Austausch mit anderen Kulturen macht uns doch erst klar, wer wir wirklich sind.” Der italienische Jazz-Künstler wirft mit diesem Statement eine wichtige Frage auf: Wer sind wir Europäer eigentlich oder besser, welche Rolle wollen wir in der derzeitigen Flüchtlingskrise übernehmen?

Wie will Europa das Flüchtlingsproblem angehen? Während uns sehr positive Signale von Bahnhöfen in München, Wien oder auch der Südtiroler Landeshauptstadt erreichen, – hervorgerufen durch die zahlreichen freiwilligen Helfer, die sich der vielen Flüchtlinge annehmen, – zeichnet sich vielerorts und durch alle Gesellschaftsschichten hindurch doch ein Bild von Angst, Unverständnis und auch Intoleranz gegenüber Ankommenden ab. Vor allem rechtsgerichtete und ausländerfeindliche Parteien wie etwa die italienische Lega Nord oder die französische Front National erfahren seit Monaten starken Aufwind. Einige EU- Mitgliedsstaaten sehen ihr Geld gar besser verwendet Zäune zu bauen als Flüchtlingen medizinische Versorgung oder Essen anzubieten. Ein Status quo, dem viele TeilnehmerInnen der Bozner Veranstaltung kritisch gegenüberstehen, gehört Immigration doch seit jeher zur Menschheitsgeschichte dazu. Neben einer regulierten und kontrollierten Aufnahme, ist der zentrale Punkt um bestehende Ressentiments auszumerzen jedoch ein anderer und darin stimmen alle Beteiligten überein: Integration

Die Dauer der Asylanträge in den meisten europäischen Staaten dauert viel zu lange und hat zur Folge, dass Flüchtlinge bis zu zwei Jahren in irgendwelchen Lagern hausen müssen, ohne ein Wort der jeweiligen Landessprache zu erlernen. Abgeschnitten vom öffentlichen Leben, siechen Menschen so vor sich hin, werden perspektivlos oder sogar aggressiv. Um diesem Problem ein Ende zu setzen, hat der Ausschuss für Menschenrechte die sogenannte “Carta di Bolzano” verfasst, eine Sammlung von Vorschlägen, wie etwa eine  Überarbeitung des Dublin-Verfahrens, welches voraussetzt, dass ein Asylantrag von dem Land bearbeitet werden muss, in welches der Antragsteller eigereist ist. Dieses Dokument wir nun der Regierung vorgelegt. Doch das eigentliche Hauptanliegen der Veranstalter ist ein anderes. Auch hundert Petitionen und Gesetzesänderungen können Angst oder Fremdenhass nicht aus der Welt schaffen. Nur Toleranz und Offenheit überwinden Barrieren und schaffen somit ein gelungenes MiteinanderBolzano, frontiera d'Europa. Bozen, Grenze Europas.Senator Francesco Palermo sieht darin den wichtigsten Punkt: “Jeder kann ein Teil der Lösung sein. Das Flüchtlingsproblem wird wohl auch in nächster Zeit nicht kleiner werden, doch indem wir die Flüchtlinge nicht als Bedrohung, sondern als Möglichkeit verstehen, profitieren wir alle von dieser Situation.” Weiterhin sei es wichtig, die Bevölkerung mit Veranstaltungen, wie dieser in Bozen, zu informieren und zu sensibilisieren. Die Organisatoren erhoffen sich ein starkes Signal von dem Event, hatte man doch Bozen symbolisch als “Grenze Europas” ausgewählt – Endstation für die meisten Flüchtlinge aus Afrika oder dem Nahen Osten, die nach Norden weiterreisen möchten.
Durch die strategische Nähe zu Österreich war Südtirol zusehends zum Hotspot in der italienische Flüchtlingsdebatte geworden. Alleine seit Jahresbeginn 2015 passierten 21.000 Menschen die Talferstadt, 826 AsylbewerberInnen sind derzeit im Land untergebracht.

Neuer Schwung für den alternden Kontinent. Ein wichtiger Punkt wird in der aktuellen Debatte aber oft übersehen, nämlich, dass die Ankunft Tausender Menschen nicht nur negative Folgen mit sich bringt, sondern durchaus auch ihre Vorzüge hat. Auf diese Tatsache weist der Präsident des Ausschusses für Menschenrechte im italienische Senat, Luigi Manconi, hin: “Europa kämpft seit Jahren mit niedrigen Geburtenraten und einer zunehmend alternden Bevölkerung. Vor allem Italien hat frische Energie dringend nötig. Neues Blut, mehr Arbeitskräfte und nicht zuletzt der Austausch mit anderen Kulturen macht Europa doch nicht schwächer sondern stärker denn je.” Der Senator findet es erfreulich, dass immer mehr italienische Familien Flüchtlinge aufnehmen, auch wenn es verständlich ist, dass nicht jeder dazu die Mittel hat. Im Allgemeinen ist Manconi folgender Meinung: “Diejenigen, die dazu in der Lage sind, Heldentaten zu vollbringen, werden es tun. Von den anderen erwarte ich mir nur, dass sie offener sind, die derzeitige Situation als große Chance begreifen und sich nicht von populistischem Geschwätz beirren lassen, welches nicht nur den MigrantInnen, sondern auch den EuropäerInnen selbst schadet.”

Lösungsvorschläge bitte… Welche Meinung man auch immer in der derzeitigen Diskussion vertritt – Flüchtlinge aufnehmen, auf verschiedene Territorien aufteilen, verstärkt in Entwicklungshilfe investieren, alles und jeden zurück ins Mutterland schicken – eines scheint doch gewiss: Der aktuelle Exodus von Menschen aus Ländern rund um das westliche Mittelmeer wird noch eine Weile anhalten. Die unkontrollierte Immigration der letzten Monate und Jahre hat Europa vor eine Zerreißprobe sondergleichen gestellt. Man kann sich jedoch nicht nur auf Regierungen und Politiker stützen, um das Problem in den Griff zu bekommen. Was tun also? Es darf nicht vergessen werden, dass wir alle, ob in Südtirol oder im restlichen Italien, bis nicht vor allzu langer Zeit auf die Hilfe und Gastfreundschaft anderer angewiesen waren. Die Ressentiments, die auch hierzulande vorhanden sind, gilt es nun zu beseitigen. In den nächsten Wochen  werden die ersten Flüchtlinge über die ganze Provinz verteilt werden; in Einrichtungen nach Mals, Tisens oder Kastelruth. Jeder einzelne von uns kann einen Beitrag leisten, sich informieren und damit schließlich und endlich bei der Integration von Asylsuchenden helfen.Wir müssen verstehen, dass Niemand mehr dem Thema gleichgültig gegenüber stehen kann, sondern dass der Erfolg oder Misserfolg von Integration mit uns steht oder fällt. Denn, um es mit den knappen Worten von Theodor Fontane wiederzugeben: “Bloßes Ignorieren ist noch lange keine Toleranz.”